Mit nicht einmal 100.000 Einwohnern ist die im Jahr 1030 erstmals urkundlich erwähnte Stadt Tartu die zweitgrößte Stadt Estlands. Sie ist auch unter ihrem schwedischen / deutschen Namen „Dorpat“ bekannt geworden. Die schwedische Zeit ist für diese Stadt jedoch historisch von besonderer Bedeutung, denn hier wurde im Jahr 1632, also zur Zeit von Schwedenkönig Gustav II. Adolf, eine Universität gegründet. Tartu ist somit älteste Universitätsstadt Estlands und auch in unserer Zeit vor allem eine junge Stadt, denn jährlich kommen rund 4.500 Studierende nach Tartu. Somit ist ein Fünftel der Bevölkerung der Stadt Studentinnen und Studenten.
Von der estnischen Hauptstadt Tallinn aus ist Tartu mit dem Auto auf gut ausgebauten Straßen in etwas mehr als zwei Stunden zu erreichen. Der Weg dorthin führt durch Wälder, Wiesen und Felder, durch ein paar Ortschaften und vorbei an einzelnen Gehöften. Diese Nähe von Natur und den Städten ist typisch für Estland – und auch die Unterschiedlichkeit der Städte: So bestehen in der Hauptstadt Tallinn die historischen Gebäude aus Sandstein, in Tartu wurden sie fast ausschließlich aus rotem Backstein gebaut. Vom mittelalterlichen Tartu ist nach Kriegen und Bränden allerdings wenig übriggeblieben. Die Altstadt von Tartu, das sind in unserer Zeit von allem die klassizistischen Gebäude des 18. Jahrhundert. Dazu zählen auch die traditionellen Holzhäuser, insbesondere in den Stadtteilen Suppilin und Karlova, die modernisiert wurden und sich inzwischen zu gefragten Wohnadressen entwickelt haben.
Mit dem Rollstuhl in der Altstadt von Tartu unterwegs zu sein, das verlangt, mit vielem verschiedenen Straßenbelag zurecht zu kommen. Es gibt sowohl Wegabschnitte mit grobem Kopfsteinpflaster wie auch mit gut befahrbarem Straßenbelag. Die Altstadt erstreckt sich östlich und unterhalb des Dombergs. Die Wege auf diesen Berg sind nur mit kräftiger Schiebehilfe oder einem Elektrorollstuhl zu schaffen. Auch in der Altstadt gibt es Straßen auf denen wahrscheinlich Schiebehilfe erforderlich wird. Zugleich gibt es an vielen Straßenstellen abgeschrägte Bordsteinkanten. Die neuen Einkaufszentren sind mittels Rollstuhl alle gut befahrbar. Bei einer relativ großen Zahl von Sehenswürdigkeiten wurden im Zuge inzwischen vorgenommener Modernisierungen auch barrierefreie Zugänge geschaffen. In mehreren Gaststätten gibt es Fahrstühle sowie auch Toiletten für Gäste mit Rollstuhl. So sind Spaziergänge um das Rathaus und über den Rathausplatz auch mit Rollstuhl gut und entspannt zu genießen.
Als traditionsreiche Universitätsstadt mit ihren insgesamt 12 Hochschulen und 25 Museen versteht sich Tartu als „Stadt des Wissens und der großen Ideen“. Dementsprechend sind auch das klassizistische Universitätshauptgebäude einschließlich eines historischen Vorlesungsraumes sowie des Kunstmuseums der Universität, das älteste Museum Estlands, und einigen Räumen für Ausstellungen ebenerdig zugänglich.
Weithin sichtbar ist die mittelalterliche Johanniskirche, ein gotischer Backsteinbau mit kunsthistorischen Terrakottafiguren. Obwohl der Zugang zur Kirche durch Kopfsteinpflaster etwas schwierig ist, gibt es am Eingang dann außen und innen je eine Schräge über welche man problemlos in die Kirche gelangen kann. Das insgesamt schlicht wirkende Kirchenschiff wird rekonstruiert und ist deshalb einerseits noch in bisherigen „ungepflegtem“ Zustand sowie andererseits in seiner ganzen historischen Schönheit zu sehen. Die Kirche verfügt über eine ansehnliche Sammlung von kleineren und größeren Terrakottafiguren. Diese sind schön anzusehen und ein guter Anlass für ein Streitgespräch darüber, weshalb sie gerade hier gesammelt wurden, eine Antwort auf diese Frage hat die Wissenschaft bisher aber noch nicht gefunden.
Für des Besuch des Domberg sollte man sich dafür entscheiden, den Berg mit einem Auto zu erklimmen. Die Steigung wie auch das Kopfsteinpflaster der Wege hinauf verlangen von einem Besucher mit Rollstuhl größere Anstrengungen. Dieser Stadtberg hatte lange als Festung gedient und wurde später von der Universität genutzt. An der Stelle der alten Bischofsfestung steht heutzutage eine Sternwarte und in der früheren Domkirche befindet sich jetzt das Geschichtsmuseum der Universität Tartu. Hier gibt es einen Teil der historischen Bibliothek der Universität sowie viele historische Instrumente und Lehrmittel, die man kennen lernen kann. Besonders interessant ist hier auch die kleine Sammlung zur Geschichte der estnischen Burschenschaften. In ihr findet sich nämlich auch die Erklärung dafür weshalb die Staatsflagge quergestreift die Farben Blau, Schwarz und Weiß zeigt – es sind die Farben der ältesten Burschenschaft an der Universität Tartu, welche im Juni 1884 als Fahne des Vereins Studierender Esten“ geweiht worden waren.
Das gesamte Museum ist mittels eines Lifts auf allen Ebenen und in allen Räumen auch Besuchern mit Rollstuhl zugänglich. Den Bewohnern Tartus gleich sollte man sich letztlich auch Zeit für einen kurzen Spaziergang entlang der romantischen Ruinen auf dem Domberg nehmen sowie die Teufelsbrücke und die Engelsbrücke einmal gesehen haben.
Vor allem wer selbst neugierig oder mit Kindern unterwegs ist, sollte auch einen Besuch des wissenschaftlichen AHAA-Zentrum, des einzigen auf dem Baltikum, fest in das Besuchsprogramm aufnehmen. Auf 10.000 mit Rollstuhl zugänglichen Quadratmetern finden hier Besucher ein Planetarium sowie viele Exponate und Versuchsanordnungen vor mit denen man viel über die Natur mit ihren physikalischen und chemischen Vorgängen lernen kann.
Zum festen Besuchsprogramm sollte schließlich ebenso ein Spaziergang entlang des Emajögi zählen. Er gehört zu den längsten Flüssen Estlands und schlängelt sich durch Tartu. Zwar hat nun nicht mehr die gleiche Bedeutung wie im Mittelalter, seine Ufer sind jedoch gut ausgebaut und so werden die Wege häufig von Spaziergängern und Radfahrern genutzt – gute Bedingungen also, um hier auch einmal mit Rollstuhl entlang zu fahren und den Fluss mit seinen wechselnden Blick auf die Stadt und ihre Brücken zu genießen. Von Interesse könnten auch solche Museen wie das Estnische Museum der Luftfahrt (16 Kilometer südlich Tartu) oder das ebenfalls nur eine kurze Strecke von Tartu entfernte Estnische Landwirtschaftsmuseum sein. Auch das ist mit Rollstuhl gut zu besuchen.
Allgemeine Informationen zur Vorbereitung einer Reise nach Estland können auf den Websites des offiziellen Tourismus-Portals „Visit Estonia“ in deutscher Sprache nachgelesen werden. Informationen zur Stadt Tartu bietet die Tourismus-Seite der Stadt Tartu, ebenfalls in deutscher Sprache. Einen Besuch in Tartu kann jeder problemlos eigenständig vorbereiten. Schon die Internetseite des Tourismusbüros bietet (nur in der englischsprachigen Version) eine gute Übersicht der Hotels, Hotels, Ferienhäusern und -zimmern mit Gästezimmern für Rollstuhlnutzer. Für mobilitätseingeschränkte Reisende wäre dennoch zu empfehlen, einen Aufenthalt in Tartu durch das Büro „Accessible Baltics“ vorbereiten zu lassen. Es ist das bisher einzige Reisebüro des Landes, welche spezielle Reiseangebote für mobilitätseingeschränkte Reisende vorhält und sowohl komplette Reisepakete anbietet wie auch individuelle Angebote unterbreitet. Der Vorteil für den mobilitätseingeschränkten Reisenden besteht darin, dass die Mitarbeiterinnen dieses Büro sich mit den Ansprüchen von Menschen mit Mobilitäseinschränkungen auskennen und ihre Auskünfte auf der Grundlage von eigenen Prüfungen vor Ort erteilen. Sie sind somit besser in der Lage, auch individuelle Fragen zu beantworten oder konkrete Ansprüche zu berücksichtigen. Zudem arbeiten sie mit Partnern zusammen, welche dann auch die Beförderung von Reisenden mit Rollstuhl gewährleisten.
(Mai 2015)