Tallinn mit Rollstuhl erkundet

Das im Jahr 1230 gegründete und am Finnischen Meerbusen liegende Tallinn, das  auch unter dem deutschen Name „Reval“ bekannt wurde, ist die Hauptstadt der Republik Estland. Hier führen die Wege der Ankommenden wie auch der Abreisenden hin. Das war schon immer so gewesen, denn die Stadt war seit ihrer Blütezeit in der Hanse Kreuzung der Handelswege an der Ostsee. Die auf Salz gegründete Stadt ist schon immer schnell gewachsen und so haben Dänen, Deutsche, Schweden, Polen und Russen versucht, diese Stadt ihrem Herrschaftsgebiet einzuverleiben.

Das vom 11. bis in das 16. Jahrhunderte stammende Straßennetz der Stadt ist fast komplett erhalten. Mit schon früher aus Stein gebauten Gebäuden blieb Tallinn weitgehend von vernichtenden Stadtbränden verschont und dank der starken Verteidigungsanlagen konnten auch mittelalterliche Waffen der Stadt wenig anhaben. Die Altstadt von Tallinn ist somit so erhalten, wie sie früher war und steht deshalb mit voller Berechtigung seit 1997 in der UNESCO-Liste der Weltkulturerbe.
Tallinn ist zugleich eine moderne Stadt mit einem internationalen Flughafen, Hochhäusern, modernen Straßen, die immer voller moderner Autos sind, neuen Hotels, Restaurants, Museen, Theater sowie vielen kleinen Geschäften, Kaufhäusern und Supermärkten. Mit etwas über 400.000 Einwohnern ist Tallinn von der Größe her deutlich kleiner als Brüssel, Paris oder gar Berlin, dennoch ist sie eine durch und durch europäische Stadt.

Obwohl in seiner Geschichte eigentlich nicht zerstört, wird auch in unserer Zeit in Tallinn weiterhin viel gebaut. Die Einwohner der Stadt sehen das nicht so verbissen und verweisen darauf, dass nur so die Stadt eine Zukunft hat. Die Geschichte, die damit zusammenhängt, ist alt und hängt mit Ülemiste – See zusammen, dem größten See im Umfeld der Stadt und gegenüber dem Flughafen gelegen. Hier im See lebt ein geheimnisvoller alter Mann, so die Sage, de geschworen hat, die Stadt mit dem Wasser des See zu überfluten und wegzuspülen, sobald sie fertig gebaut ist. So erfährt man in Tallinn, dass dieser alte Mann in der dunkelsten Nacht des Herbstes jedes Jahr an das Stadttor klopft und fragt, ob die Stadt endlich fertig gebaut ist. Weil ihm die Stadtwache seit alters her antwortet, in der Stadt käme man wegen der vielen Baustellen kaum voran, geht dieser Wassergeist dann immer wieder in den See zurück und Tallinn bleibt weiterhin bestehen.

Das historische Herz Tallinns ist die mittelalterliche Altstadt mit ihren Giebelhäusern und gotischen Türmen. Ihr ältester Teil ist der Domberg, auf dem einst eine dänische Burg stand sowie dann das Schloss, der Dom und mehrere Häuser reicher Bürger gebaut wurden. Seit dem Mittelalter war hier der Sitz des Adel und des Klerus. „Auf dem Domberg wurde immer geherrscht,“ sagen die Esten, „…und das ist auch heute so.“ Hier befinden sich wichtige Gebäude der Regierung und in den früheren „Bürgerpalästen“ residieren Botschaften anderer Länder.
Der Besuch des Domberges von Tallinn ist auch für mobilitätseingeschränkte Gäste sowohl wegen der Sehenswürdigkeiten auf dem Domberg wie auch der dortigen Aussichtspunkte ein „Muss“. Wer den Berg mit Rollstuhl besucht, sollte aber auf Steigungen und Gefällestrecken vorbereitet sein. Auf den Wegen zu den Aussichtspunkten gibt es, wie an den Fußwegen, Schrägen, dennoch ist es für Rollstuhlnutzer hier nicht problemlos – fast alle Straßen und Wege bieten nur historisch altes und recht holpriges Kopfsteinpflaster. Vor dem Besuch des Domberges sollte für Besucher mit Rollstuhl der Blick in den Hafen stehen – liegen dort mehr als zwei Kreuzfahrtschiff, könnte man darüber nachdenken, die Besichtigung um eventuell einen Tag zu verschieben. Wenn die Passagiere mehrerer Kreuzfahrtschiffe den Domberg besichtigen, ist eine Besichtigung mit Rollstuhl anstrengend.

Die Unterstadt von Tallinn war eine bis in das 19. Jahrhundert hinein eine von der Oberstadt getrennte Stadt. Ihr Bild wird vor allem von dem vom Beginn des 15. Jahrhundert stammende älteste Rathaus des Baltikum, den Marktplatz sowie der Rathausapotheke, der ältesten Apotheke Europas, bestimmt. Tallinns Unterstadt ist ein Labyrinth enger Gassen, die sich zu größeren Anteilen als die Oberstadt auch mit Rollstuhl befahren lassen. Unweit des Rathauses ist das kleinste Haus der Stadt zu bewundern. Ganz in seiner Nähe steht die gotische Heiligengeistkirche, welche ihr Gestalt aus dem 14. Jahrhundert bewahrt hat und mittels Schräge auch für Besucher mit Rollstuhl, nach dem Überwinden eines Absatzes an der Türaußenseite,  zugänglich ist.  Auch das Büro der Touristinformation in der Unterstadt ist mittels Schräge zugänglich. Besonders in der Unterstadt gibt es viele Einkaufsmöglichkeiten und Restaurants. Zudem schließen sich an die Unterstadt viele Parks an.

Auf dem Stadtgebiet von Tallinn gibt es 40 Quadratkilometer Park- und Waldflächen. Wer die Tallinn besucht, sollte Abstecher in den Stadtteil „Pirita“ fest mit einplanen. Hier steht der 314 Meter hohe Fernsehturm. Von der in 170 Meter Höhe befindlichen Gaststätte hat am einen unbehinderten Blick über diese Stadt – und das kann auch ein Besucher mit Rollstuhl. Unmittelbar am Fernsehturm stehen Behindertenparkplätze zur Verfügung. Die Wege zum Fernsehturm und zum Fahrstuhl sind ebenerdig und auch das Restaurants ist ohne Barrieren zugänglich.
In diesem Stadtteil laden zudem der Botanische Garten sowie die Ruine des Brigittenklosters zu einem Besuch ein. Für mobilitätseingeschränkte Besucher ist ebenfalls die Pirita-Promenade von Interesse, einem zwei Kilometer langer asphaltierter Weg, der entlang der Küste zwischen den Stadteilen Kadriorg und Pirita führt und bei Fußgängern, Radfahreren und Skatern beliebt ist.
Unbedingt sollte man sich auch Zeit für den Besuch der Sängerfestwiese nehmen, die hier am Rande des Stadtteils Kadriorg befindet. Hier begann im Jahre 1988 die „Singende Revolution“ und hier finden seit 1959 alle fünf Jahre die Estnischen Sänger- und Tanzfeste statt, zu denen dann mehr als 30.000 Künstler und200.000 Zuschauer zusammenkommen. Am Eingang zur Festwiese stehen Behindertenparkplätze zur Verfügung. Die Bühne steht in einem relativ tiefen Tal und der Weg dorthin führt über stark abfallende Wege, für welche Schiebehilfe erforderlich ist. Zugleich ist vom oberen Rand des Geländes ein guter Überblick möglich und die Plätze hier sind auch ohne Hilfe oder Barrieren erreichbar.

Dicht beim Stadtzentrum und auch zu Fuß gut zu erreichen liegt Kadriorg (Katharinental), ein Teil der Stadt mit vielen Laubbäumen. Der russische Zar Peter der Große lies hier im Jahr 1718 zu Ehren seiner Gemahlin, Katharina der Ersten, einen Palast bauen, welcher der Zarenfamilie als Sommersitz diente. Im Februar 2006 wurde das Estnische Kunstmuseum in Kadriorg eröffnet. Sowohl Schloss als auch der Park Katharinental sind für Rollstuhlnutzer zugänglich. So sollte man ein Besuch in diesem Schloss wie auch ein Spaziergang im Park undbedingt auf seinen Besuchsplan schreiben und sich auch etwas mehr Zeit für einen Spaziergang ganz in Ruhe oder den Besuch weiterer Museen in diesem Stadtteil. vorsehen.

Bei einem Besuch in Tallinn gibt es auch für mobilitätseingeschränkte Besucher noch vieles mehr zu entdecken und zu erleben. Da wäre, zum Beispiel das zwischen Altstadt, dem Hafen und dem Viru-Platz gelegene Rotermann-Viertel zu nennen. Dieses ehemalige Industrieviertel hatte sich im 19. Jahrhundert rasch entwickelt und zeigt nun, wie man derartige Viertel neue Funktionen geben kann. Auch die Straßen mit den traditionellen Holzhäusern sollte man ebenso wenig vergessen wie die vielen Museen dieser Stadt oder den auch für  Rollstuhlnutzer zugänglichen Zoo.
Informationen zu all dem kann jeder auf der deutschsprachigen Internetseite der Stadt Tallinn nachlesen.

(Mai 2015)